Unsere Liebe Frau von
Guadalupe,
die Schutzpatronin von Mexico
(Nach den Mitteilungen einer Ordensfrau vom Heiligsten Herzen aus dem Jahre 1894)
Eine Legua (ca. 5½ km) nördlich von der goldschimmernden Hauptstadt Mexico entfernt und durch zwei parallele, zum Teil mit Silberpappeln gesäumte Dammstraßen verbunden, liegt nahe am blauen Spiegel des Tezcucosees das Dorf de Gudalupe Hidalgo, ein kleiner, unbedeutender Ort in unfruchtbarer, dürrer Gegend, aber hochberühmt im ganzen Lande durch das alte Heiligtum U.L. Frau von Guadalupe, der Schutzpatronin von Mexico. Da der Ursprung dieser Gnadenstätte zurückreicht bis in die ersten Zeiten der spanischen Eroberung und ihr Segenseinfluß mit der Bekehrung der Indianer aufs innigste verknüpft ist, so soll uns im folgenden eine deutsche Ordensfrau vom Heiligsten Herzen, die in Mexico wirkt, die merkwürdige Gründungsgeschichte kurz erzählen. Der hehren Himmelskönigin sei auf solche Weise auch in diesen Blättern ein Tribut der Verehrung dargebracht.
"Was für Frankreich Lourdes, für die Schweiz Einsiedeln und für den Niederrhein Kevelaer ist, das ist für Mexico Guadalupe. Die Geschichte der Erscheinung ist folgende. Im Jahre 1531, 10 Jahre und 4 Monate nach der Eroberung Mexicos, als der Krieg beendigt und unter der Friedenssonne die Religion Jesu Christi im alten Anahuac aufzublühen begann, lebte in einem Dorfe, Cuantitla mit Namen, 4 Meilen von der Hauptstadt, mit seiner Frau Maria Lucia in friedlicher Eintracht ein armer, demütiger, kindlicher frommer Indianer. Er war einer der Neubekehrten, hatte in der Taufe den Namen Johannes erhalten und nannte sich Johannes Diego. Es war an einem Samstag frühmorgens vor Sonnenaufgang, den 9. Dezember, als er sich aufmachte, um in der in der Vorstadt Tlaltecolco gelegenen Franziskanerkirche St. Jakobs des Größern die heilige Messe zu Ehren U.L. Frau zu hören. Wie er am Fuße des letzten Hügels der Mexico umschließenden Bergkette einherschritt, vernahm er plötzlich von oben her einen wunderlieblichen Gesang, den er anfangs für süßen Vogelschlag hielt. Als er aber zur Felsenhöhe emporblickte, sah er eine lichte Wolke, die vom Himmel der Erde sich zu nähern schien. Der Lichtglanz in der Mitte der Wolke wurde immer stärker. Von ihm gingen Strahlen aus, welche die Farben des Regenbogens bildeten. Der Indianer, ganz wonneselig im Herzen, ging noch mit sich zu Rate, ob er sich der Wolke nähern solle, als ihm eine liebliche weibliche Stimme in seiner Muttersprache zurief: 'Johannes!' Der Indianer näherte sich nun der Wolke und erblickte in der Mitte eine wunderschöne Jungfrau, welche ihn also anredete: 'Mein Sohn Johannes Diego, den ich liebe wie ein kleines schwaches Kind, wohin gehst du?' -- 'O edle Dame und Herrin', erwiderte Johannes, 'ich gehe nach Mexico, um die heilige Messe zu hören, welche uns die Diener Gottes lesen'. Darauf die Erscheinung: 'Wisse, mein lieber Sohn, daß ich Maria bin, die immerwährende Jungfrau, die Mutter des wahrhaftigen Gottes, des Urhebers des Lebens, des Schöpfers von allem, des Herrn des Himmel und der Erde, dem alles zu eigen ist. Es ist mein Wunsch, daß man mir an dieser Stelle eine Kirche erbaue, wo ich als mitleidige Mutter, geliebt von dir und deinen Stammesgenossen, meine liebevolle Erbarmung zeigen und das Mitleid offenbaren will, das ich mit deinem Volke und mit allen trage, die mich lieben und mich in ihren Arbeiten und Leiden anflehen. Und so oft ich ihre Seufzer und Bitten höre, werde ich sie trösten und ihren Kummer erleichtern. Darum tue, was ich dir sage, und gehe zur Stadt Mexico und zum Palaste des Erzbischofs, der dort residiert, und sage ihm, daß ich es bin, die dich sende. Es sei mein Wunsch, daß man mir an diesem Orte eine Kirche erbaue. Erzähle ihm alles, was du gesehen und gehört hast, und sei versichert, daß ich dankbar sein und dich für alles, was du in dieser Sache tun wirst, belohnen werde. Mein Sohn, nun hast du meinen Wunsch vernommen; geh jetzt in Frieden.' -- Der Indianer versprach, alles zu tun, machte eine tiefe Verneigung und ging geradewegs nach Mexico.
Im erzbischöflichen Palais ließen ihn die Diener anfangs nicht vor, bis seine demütige Beharrlichkeit sie rührte. Der Erzbischof aber -- es war der berühmte Franziskaner Juan de Zumarraga -- schenkte dem Berichte des Indianers keinen Glauben und sagte ihm, daß seine Einbildung ihm all dies vorgespiegelt habe. Doch möge er nach einigen Tagen wiederkommen. Traurig ging Johannes Diego fort. Am andern Morgen begab er sich wider zum Felsenberge, wo er die erste Erscheinung gehabt. Da erblickte er ein zweites Mal die glänzende Wolke und in ihr die Gottesmutter, die ihn erwartete. Er warf sich zu ihren Füßen nieder, erzählte ihr in kindlicher Einfalt alles, was sich zugetragen, und bat sie schließlich, nicht ihn, den armen Indianer, sondern einen hochangesehenen Mann zum Erzbischof senden zu wollen. Die allerseligste Jungfrau erwiderte: 'Wisse, mein vielgeliebter Sohn, daß es mir nicht an Dienern mangelt, die ich senden könnte; aber ich will, daß du meinen Wunsch und Willen vollführst. Ich bitte dich daher, mein Sohn, und befehle dir, gehe morgen noch einmal zum Erzbischof, bitte ihn in meinem Namen, daß er mir eine Kirche erbaue, und sage ihm, daß diejenige, welche dich schickt, die Jungfrau Maria sei, die Mutter des wahrhaftigen Gottes.' -- Johannes Diego erwiderte: 'Sei nicht böse, meine Königin und Herrin, über das, was ich sage. Von Herzen gern will ich deinen Befehl erfüllen, und der Weg wird mir nicht zu lang sein. Aber ich fürchte, man wird mich kein zweites Mal vorlassen, oder wenn es geschieht, wird mir der Erzbischof nicht glauben. Trotzdem will ich nach deinem Willen tun, hohe Herrin, und morgen Abend bei Sonnenuntergang will ich an diesem Ort dir Bescheid bringen.' Am folgenden Morgen begab sich Johannes Diego nach andächtig gehörter heiliger Messe zum Erzbischof und beteuerte ihm unter Tränen, daß die liebe Mutter Gottes ihm zum zweitenmal erschienen und die gleiche Bitte ausgesprochen habe. Aber auch dieses Mal fand er beim Erzbischof keinen Glauben. Derselbe meinte, der einfachen Erzählung des Indianers in einer so wichtigen Sache nicht trauen zu dürfen. Diego solle das nächste Mal, wenn die wunderbare Frau ihm erscheine, sie bitten, ihm, dem Erzbischof, ein sicheres Zeichen zu geben, woran er erkenne, daß sie die Mutter Gottes sei.
Mit diesem Bescheid ging der Indianer wieder fort, heimlich gefolgt von zwei Dienern, die ihm der Erzbischof nachsandte, um ihn zu beobachten. Allein am Fuße des Hügels verloren die beiden den Mann plötzlich aus den Augen. Johannes Diego aber fand an dem verabredeten Orte die hehre Erscheinung seiner wartend. Er erzählte ihr alles, was der Erzbischof gesagt. Sie dankte ihm mit liebevollen Worten für seine Mühe und befahl ihm, am folgenden Tage zur gleichen Stunde und am gleichen Orte sich einzufinden; dann wolle sie ihm das gewünschte Zeichen geben. Sehr zufrieden versprach der Indianer, sich einzustellen. Zuhause angekommen, fand er seinen Onkel Juan Bernardino, der an ihm Vaterstelle vertreten hatte, an einem heftigen Fieber krank darniederliegen. Er eilte also am folgeden Tage, dem 11. Dezember, einen Arzt und einen Geistlichen zu holen, und darüber war die Zeit, in welcher er vor der allerseligsten Jungfrau erscheinen sollte, verstrichen. Auf dem Wege, an der Stelle, wo ihm gewöhnlich die allerseligste Jungfrau erschien, fiel dem guten Indianer plötzlich ein, daß er sein Übereinkommen mit ihr vergessen habe. Er war so verwirrt, daß er in seiner Einfalt dachte, er wolle einen andern Fußpfad einschlagen, dann würde sie ihm nicht begegnen; und doch hätte er so gerne das versprochene Zeichen gehabt. Als er so bei sich dachte, sah er unerwartet die leuchtende Wolke und die Mutter Gottes. Es war in der Nähe der Mineralquelle, die dort heute noch strömt und durch ihre Heilkraft berühmt ist. 'Wohin gehst du, mein Sohn?' fragte die Erscheinung, 'und warum hast du nicht gehorcht?' Der Indianer, ganz überrascht, verstört und eingeschüchtert, bat herzlich um Verzeihung und erzählte, daß sein Onkel krank sei und er Arzt und Geistlichen geholt habe. Darauf erwiderte die allerseligste Jungfrau: 'Höre, mein Sohn, was ich dir jetzt sage. Betrübe dich nicht mehr wegen dieser Angelegenheit, noch wegen der Krankheit, noch wegen irgend etwas sonstigem Unangenehmen oder Schmerzlichen. Bin ich denn nicht deine Mutter? Stehst du denn nicht unter meinem Schutze? Bin ich nicht das Leben und das Heil? Hast du noch irgend einen Wunsch, so sage es mir. Mache dir keine Sorge um die Krankheit deines Onkels, er wird daran nicht sterben; vielmehr ist er in diesem Augenblicke schon gesund.' Ganz entzückt antwortete der Indianer: 'Könntest du mich jetzt nicht zum Erzbischof schicken, meine Herrin, damit ich ihm das Zeichen bringe und er mir glaube?' Die allerseligste Jungfrau erwiderte: 'Wohlan, mein Sohn, steige auf die Spitze dieses Felsens und pflücke die Rosen, die du dort finden wirst. Lege sie in die Falten deines Mantels und komme mit denselben zu mir, damit ich dir sage, was du zu tun hast.' Gehorsam stieg der Indianer hinauf, obwohl er bei sich fest überzeugt war, daß auf dem starren Felsen dort oben sich niemals Rosen finden könnten, zumal nicht zu dieser Jahreszeit. Auf dem Plateau angekommen, fand er wirklich mehrere Sträucher frischer, wohlriechender, zartbetauter Rosen, und indem er eine Art Mantel ausbreitete (da die Indianer einen solchen [Poncho genannt] beständig als Kleidungsstück tragen), pflückte er so viele Rosen, als der Mantel fassen konnte, und kehrte zur himmlischen Frau zurück, welche an einem Baum auf ihn wartete. Sie deckte überall die Rosen sorgfältig mit dem Mantel zu und sagte: 'Siehe, nun hast du das Zeichen. Geh jetzt zum Erzbischof und sage ihm, daß er es als ein solches annehme. Und dann, geliebter Sohn, setze ich in dich das Vertrauen, daß du mit niemanden auf dem Wege von der Sache sprechest, noch weniger deinen Mantel öffnest: nur in Gegenwart des Erzbischofs sollst du dieses tun. Sage ihm, daß er mir unbedingt müsse eine Kirche bauen lassen.'
Mit diesen Worten verabschiedete sie den Indianer, welcher, glücklich über das erhaltene Zeichen, das den Erfolg seines Unternehmens ihm sichern sollte, den Weg nach Mexico einschlug. Im erzbischöflichen Palais wollten die Diener ihn anfangs lange nicht vorlassen. Sie waren sehr begierig, zu erfahren, was er in seinem Mantel trage. Er aber zeigte es ihnen nicht. Als Johannes Diego endlich vor dem Erzbischof stand und seinen Mantel öffnete, ließ er vor Erstaunen die Rosen auf den Boden fallen, denn er erblickte innen auf dem Stoffe seines Mantels gemalt ein wunderbar schönes Gemälde, die allerseligste Jungfrau darstellend, so wie sie ihm erschienen war. Nicht minder erstaunt war der Erzbischof; ganz von Bewunderung erfüllt, ließ er alle herbeirufen, die im Hause waren. Dann hängte er das Bild ehrfurchtsvoll in seiner Kapelle auf, und alle dankten Gott und der allerseligsten Jungfrau für diesen wunderbaren Gnadenerweis. Der Erzbischof wünschte zu wissen, welchen Ort die Mutter Gottes für die Kirche bestimmt habe. Johannes Diego sagte, es sei die Stelle, wo sie ihm erschienen, übrigens könne sein Onkel Juan Bernardino dieses bezeugen, da die allerseligste Jungfrau auch ihm während seiner Krankheit erschienen sei und ihn geheilt habe.
Juan Bernardino wurde herbeigerufen, und er versicherte dem Erzbischof, die Mutter Gottes sei ihm in der Tat erschienen, habe ihn geheilt und gesagt, man solle ihr eine Kirche bauen an eben dem Platze, wo sein Neffe sie gesehen. Sie wolle dort unter dem Titel Santa Maria de Guadalupe verehrt sein. Warum sie diesen Namen erwählt, habe sie nicht gesagt.
Die Nachricht von dem wunderbaren Bilde verbreitete sich bald in der Stadt, und es kam eine Menge Leute, es zu sehen und zu verehren. Darum ließ der Erzbischof es in der Hauptkirche auf dem Hochaltar aufstellen, bis die Kapelle von Guadalupe fertig wäre. Man zögerte nicht, den Wunsch der Himmelskönigin recht bald zu erfüllen. Das Bild wurde in die Gnadenkapelle übertragen, und die zahlreichen Wunder und Gebetserhörungen machten den Ort bald berühmt im ganzen Lande und vor allem der armen, gedrückten roten Rasse überaus teuer. Die Kapelle war bald schon viel zu klein, um all die Pilger zu fassen. 1695 legte der damalige Erzbischof von Mexico Franz von Aguiar y Seixas den Grundstein jener herrlichen Wallfahrts-Basilika, die heute noch am Fuße des Hügels sich erhebt. Die Baukosten betrugen ca. 2'260'000 Mark. Am 1. Mai 1709 fand die feierliche Übertragung statt. Das Gnadenbild kam auf einen silbernen Thron zu stehen, der allein auf 400'000 Franken geschätzt wurde. Täglich mehrte sich die Zahl der kostbaren Weihgeschenke. Eine Belustrade von massivem Silber, geschützt durch eine zweite von köstlichem Holzschnitzwerk, schloß das Sanctuarium ab. Der Vizekönig Don Antonio Maria Buccarelli umgab das Gnadenbild mit einer Nische von massivem Golde und stiftete zwölf schwere goldene Leuchter. 1750 wurde der Gnadenort zu einer Stiftskirche erhoben mit einem Kapitel von zwölf Kanonikern, deren Probst mit der bischöflichen Würde bekleidet ist. Ganz Mexico weihte sich feierlich U.L. Frau von Guadalupe, und die jährliche Erinnerungsfeier ist ein Nationalfest erster Klasse.
Von der Kapelle führt ein breiter Treppenweg allmählich auf das Plateau des Felsens, auf welchem eine dritte größere Kapelle erbaut ist, an dem Orte, wo die wunderbaren Rosen standen. Man ist ganz überrascht, wenn man die Kapelle umgeht und sich hinter derselben plötzlich auf einem großen, schön in Ordnung gehaltenen Gottesacker befindet, der in den Darstellungen der Monumente, die meistens aus Marmor sind, ein echt katholisches Gepräge trägt. Die guten Katholiken Mexicos streben vielfach nach der Begünstigung, sich selbst nach dem Tode noch unter den besonderen Schutz der Mutter Gottes zu begeben, und sie tun recht daran.
Vor der Kapellentüre genießt man eine wunderbar schöne Aussicht. Geradeaus erblickt man Mexico mit seinen vielen Kirchtürmen. Rechts erstreckt sich eine fruchtbare, gut bebaute Ebene, links entrollt sich dem Blicke ein herrliches Landschaftsbild. Eine Gebirgskette, die Sierra Madre, zieht sich weit ins Land hinein. Zwei Berge stehen isoliert in einiger Entfernung voneinander und sind mit ewigem Schnee bedeckt. Der eine Berg heißt 'Die tote Frau', der andere 'Die weiße Frau'. Am Fuße eines jeden zieht sich ein großer blauer See hin. Der Berg, an welchem die Mutter Gottes erschienen und von welchem man diese Aussicht genießt, heißt Tepeyak. Hier thront die Mutter der Gnade, die reinste Jungfrau, seit nahezu 400 Jahren milden Segen ausgießend über dieses Hochland, das so schön und doch so ernst sich unten ausbreitet, wie träumerisch sinnend über eine so seltsame, einzig denkwürdige Vergangenheit."
Die eigentliche Gnadenkapelle, über deren Hochaltar man das Bild erblickt, ist nicht sehr groß. Das Bild ist herrlich, so daß Kenner sagen, es sei so fein gemalt wie die Flügel eines schönen bunten Schmetterlings. Und doch war der Stoff ein äußerst grober, ein Hanfgewebe, welches in seiner leichten Webart ein Löchlein neben dem andern zeigt; noch heute tragen die Indianer Mäntel von diesem Stoff. Bei einem meiner Besuche kniete in der Kapelle gerade ein Indianer mit einem Mantel des eben beschriebenen Stoffes. Er erlaubte uns, denselben näher anzusehen. Es ist in der Tat ein Wunder, daß auf diesem groben Tuche ein solch zartes Gemälde ausgeführt wurde. Schon oft ist das Bild von Künstlern und Kunstkennern untersucht worden. Aber keiner konnte sagen, wie es gemalt sei. Auch die letzte durch den nordamerikanischen Konsul veranlaßte Untersuchung ergab als Resultat, die Malweise und die Entstehung des Bildes entziehe sich jeder wissenschaftlichen Erklärung. Das Kleid der lieben Mutter Gottes ist rosafarbig und wie mit reichen Goldstickereien versehen. Der Mantel ist von innen hellblau, von außen dunkelblau, mit einer Goldborde umgeben und mit Goldsternen wie besät. Man kann deren 46 zählen. Der Mantel ist so um ihr Haupt gelegt, wie die Indianerinnen ihre Mantilla, d.h. ihre längliches Kopftuch, zu tragen pflegen. Auf ihrem Haupte ist eine goldene Krone. Sie ist ganz umgeben von einem Kranze von Goldstrahlen und steht auf dem Halbmonde. Unter demselben schwebt ein Engelein, welches mit einer Hand die Schleppe ihres Kleides, mit der andern die ihres Mantels faßt. Das Gemälde ist unter Glas und mit einem kostbaren Rahmen umgeben. Viele Prozessionen kommen auch heute noch nach Guadalupe, und unzählige Gnaden werden dort erlangt.
Unter den Wallfahrern sind auch die Indianer stark vertreten. Sie halten immer noch fest an den althergebrachten Gebräuchen, die von ihren ersten Missionären gutgeheißen wurde, und mit denen sie ihrer himmlischen Mutter den Tribut ihrer Huldigung und Liebe in ihrer Weise darbringen. Sie führen nämlich unmittelbar vor dem Gnadenbild Gesänge und Tänze auf, die den Fremden freilich anfangs sonderbar anmuten, aber durch ihren schlichten, kindlich einfachen Charakter rasch versöhnen. Die Männer, die Mädchen und die Kinder tanzen getrennt, jedes in seiner Weise. Die Mädchen tragen dabei über ihr weißes Gewand eine rote, vor der Brust gekreuzte Schärpe und auf den langen Locken ein farbiges Kopftuch. In der Hand halten sie ein Stäbchen, mit dem sie auf den Boden stoßend den Takt geben. Der Tanz besteht bloß in durchaus sittsamen rhythmischen Körperbewegungen, welche die Mädchen in einer Reihe hintereinander nach einem eintönigen feierlichen Gesange ausführen. Die Kinder tanzen wieder ganz anders in einer gesonderten Gruppe zum Klange der Indianerviolinen, welche drei bis vier rote ernste Gestalten spielen. Die Kinder tragen die indianische Nationaltracht, einen reichgezierten Rebozo oder Poncho, über dem weißen hemdartigen Gewande und weißen Beinkleidern. Der religiöse Ernst, mit dem die Kinder diese Zeremonie aufführen, macht einen durchaus erbaulichen Eindruck.
In direkter Verbindung mit der Gnadenkapelle steht die große, prachtvolle Kirche. Man könnte sie beinahe eine Kathedrale nennen. Etwa 15 Schritte von der Gnadenkapelle entfernt, an der andern Seite des Berges, steht eine zweite Kapelle (siehe Bild). Es ist der Ort, wo die allerseligste Jungfrau auf Johannes Diego wartete, als er oben auf dem Felsen die Rosen pflückte. Die Kapelle ist rund und hat außer dem Hauptaltar vier Nebenaltäre. Die Altarbilder der letzteren, vier große Gemälde, stellen die vier Erscheinungen der allerseligsten Jungfrau dar. Es waren dort auch verschiedene Statuen in Lebensgröße. Unter andern Heiligen bemerkte ich auch die hll. Ignatius, Franz Borgia und Stanislaus Kostka. In der Vorhalle der Kapelle ist eine Quelle von stark eisenhaltigem Wasser. Sie ist tief, hat etwa 2 m im Durchmesser und ist mit einem Eisengitter umgeben. Die Indianer und auch die Wallfahrer trinken das Wasser aus Verehrung gegen die allerseligste Jungfrau, obgleich die Quelle mit der Erscheinung nicht in bezug steht.
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